Ich wische mir den Schweiß aus den Augen und schiele zur Uhr. Noch 30 Sekunden. Ally, die Rasta-bezopfte Trainerin auf meinem Bildschirm scheint nicht mal außer Atem zu sein. Egal, gleich ist es geschafft. „5, 4, 3, 2, 1 – und weil es so schön war, hängen wir nochmal 3 Minuten Sprint dran“. Was? Ich starte sie fassungslos an? Im Ernst? Das kann sie doch nicht machen. Aber sie kann. Und ich mache mit. Schließlich quäle ich mich hier ja freiwillig. Trotzdem ärgere ich mich-. Und hasse die Trainerin, für Ihre Willkür. Weil es eben nicht vorhersehbar war. Und ich mich nicht „darauf einstellen“ konnte.
Wäre es besser gewesen, es vorher zu wissen, wie lange es wirklich dauert mit dem Sprint auf meinem Hometrainer, dem Corona-bedingten Ersatz-Fitnesscenter zu Hause? Oder wäre ich dann gleich ausgestiegen? Wie der kleine Junge im Filmklassiker „Der Krieg der Knöpfe“, der immer sagt…“Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht mitgekommen“…auch schon als sich die Frage schon nicht mehr stellt. Eine Frage, die sich auch zur gegenwärtigen Corona-Lage nicht stellt – nie gestellt hat. Denn da gab und gibt es kein „Aussteigen“. We are all in this together. Und keiner weiß, wie lange es noch dauert. Immer wieder höre ich in meiner Coaching Arbeit im Moment ‚wenn man nur wüsste, wie lange wir noch durchhalten müssen…‘ Warum ist es eigentlich so, dass wir so schwer mit Unsicherheit und Unvorhergesehenem umgehen können? Natürlich gab es Zeiten in der Menschheitsgeschichte, wo vorausschauendes Denken und Handeln überlebenswichtig war und Neues eher eine Bedrohung darstellte, aber warum halten wir heute noch so krampfhaft an dem Wunsch nach Vorhersagbarkeit fest, statt uns einzulassen – auf neue Bedingungen, sie als Gelegenheit zur Weiterentwicklung und zur inneren Flexibilisierung zu nehmen und zu nutzen.
Ein Grund könnte sein, dass unser Hirn ein besonders fokussierter Energiesparer ist, der Bekanntes und Vorhersagbares bevorzugt, weil es ihm weniger Leistung abverlangt. Bevor es also Energie aufwendet, um neue Denkwege in Form von neuen Verbindungen zwischen Neuronen zu schaffen, sucht es zunächst verzweifelt nach alten Logiken und Prozessen, die es effizienter nutzen kann.
Grundsätzlich ein guter Mechanismus – in Zeiten wo Energie in Form von Nahrung noch Mangelware war. Heute aber, wo wir darüber im Überfluss verfügen, wäre es da nicht großartig, wenn wir vom Energiespar- in den Turbomodus schalten könnten, wenn neue Herausforderungen es erforderlich machen? Wenn wir, statt in eine kleine, passive und ängstliche Haltung zu verfallen, mutig, neugierig und mit Freude an der Erfahrung in die Gestaltung dieser neuen Situation gehen könnten – auch wenn sie zunächst gar nicht oder noch nicht nach einer positiven Erfahrung aussieht?
Im Coaching probieren wir diesen Haltungswechsel in einem „Safe Space“ aus. Schauen, wie es sich anfühlt, die Bedenken für eine Weile zu parken und die Chancen und Möglichkeiten zu sehen, die in veränderten Rahmenbedingungen liegen. Um im nächsten Schritt zu überlegen, was es braucht, um diese nutzen zu können. Natürlich hilft dabei ein attraktives Zielbild (wie die Bikinifigur, wenn frau sich auf dem Hometrainer quält). Aber alleine dieser Perspektivwechsel hilft schon dabei, Neuem aufgeschlossener gegenüber zu treten. Was könnte drin sein für mich, wenn ich mich darauf einlasse? Und was könnte mir dabei helfen?
Fragen, die eventuell auch in diesen Zeiten ab und zu helfen können, mit Unsicherheiten und dem Gefühl, dass „es uns passiert“ besser umgehen zu können.
„We are here to get stronger, not to complain.” lacht die Rasta-Zopf Trainerin in meine Gedanken hinein und kündigt im selben Atemzug den nächste Berg an, den wir gemeinsam angehen. Mit dieser Herausforderung sind wir nicht allein.
Julia N. Weiss
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