Social Distancing vs. Digital Proximity 

Das Gesicht des sonst attraktiven jungen Kollegen erscheinin einem fahlen diffusen Licht, die Augen wirken durch die Perspektive der Laptop-Kamera hinter der Brille unnatürlich vergrößert, die Nasenlöcher scheinen längliche übergroße Schlitze, die die Proportionen des Gesichts verschiebensein Blick wandert ungerichtet von rechts nach links, als wären wir am anderen Ende der Leitung gar nicht vorhanden. Dann ist eher sein Hals als sein Gesicht sichtbar, was eine ungewollte Intimität herstellt. Der Kunde ist damit eindeutig überfordert. Seine Irritation ist deutlich hörbar und sein Gesicht bewegt sich vom Bildschirm weg, die Arme verschränken sich und er wippt auf seinem Bürostuhl nach hinten. Noch deutlicher könnte die Suche nach Abstand in dieser Situation nicht sein. Und dabei war an dem Input des jungen Kollegen inhaltlich nichts auszusetzen. 

Seit fast einem Monat bestimmt Social Distancing unseren Alltag. Vor allem den Berufsalltag. Schnell ist nicht nur dem cleveren Geschäftsmensch klar geworden, dass die Chance der Stunde nun im Virtuellen, Digitalen liegt. Das Social Distancing bezieht sich also in erster Linie auf den physischen Kontakt. Denn abgesehen davon rücken wir uns beruflich in dieser Zeit näher als jemals zuvor. Wir sitzen 8 Stunden am Tag in unserer eigenen „Home Zone vor einem Bildschirm und sehen, ohne den sonst so hilfreichen Gesamtkontext, in die Gesichter, und zwar nur in die Gesichter unserer Kollegen. Das für unsere Wahrnehmung und Einschätzung von Stimmungen und demzufolge auch für die Interpretation des Gesagten, wichtige Umfeld, Körper, Kleidung, Gesamteindruck, Stimmung, das uns sonst unterbewusst wichtige Informationen über meinen Gesprächspartner liefert, bleiben im Verborgenen. Wir nehmen unsere Partner und die Gesamtsituation im wahrsten Sinne des Wortes sehr eindimensional wahr.  

Der geschützte und eindeutige Rahmen des Büros, in das ich morgens gehen konnte, um alle beruflichen Anforderungen zu erledigen, fällt nun weg. Ich bin dazu aufgefordert, zwischen meinem Schlafzimmer und meiner Küche einen Platz zu finde, der mir das bietet, was ich sonst im Büro habe: Einen neutralen Raum, in dem mich weder der hinter mir stehende Wäscheständer, noch die Urlaubsbilder an der Wand ablenken. Neben der Tatsache, dass ich in einem privaten Rahmen bleiben muss, finden alle beruflichen Gespräche und Verhandlungen nun auf einer intimeren Ebene statt. Der kleine Ausschnitt des Bildschirms muss mein sonst deutlich größeres Wirkungsfeld ersetzen. Nicht nur, dass ich eindimensional und verkleinert stattfinde, ich habe auch nur die Hälfte meiner Instrumente zur Verfügung, weil meine Körpersprache weitgehend wegfällt. Gleichzeitig, sehen meine Kunden Kollegen und Klienten mein Gesicht in einer Nähe, die wir sonst nur sehr nahestehenden Menschen zu billigen. Der natürliche Abstand – eine Armlänge, den wir normalerweise einnehmen, ist vor dem Bildschirm aufgehoben.  

Die Grenze, die wir sonst auf natürliche Weise zogen, weil wir unser „Zuhause“ schützten, in dem wir es zum Arbeiten verlassen haben, verwässert zusehends. Alles wird online gezeigt und gemacht. Konferenzen, Unterrichtsfächer jeglicher Art, Sport und soziale Kontakte, alles findet über die Gewinner dieser Krise statt: soziale und professionelle Plattformen, wie Zoom, Skype, Jitis oder Teams, bieten uns die Möglichkeit, uns trotz allem zu sehen, während wir verhandeln, lernen, lehren, diskutieren und erfinden 

So wichtig es ist, das Geschäft am Laufen zu halten, so herausfordernd ist es auch, die eigene private Grenze zum Beruflichen zu trennenUnd nicht blindlings alles in das Rettungsboot virtuellen Arbeitens zu packen, weil der Einblick, den wir schnell durch eine unbewusst falsche Arbeit mit der Kamera liefern, uns im beruflichen Kontext angreifbar macht und Interpretationen zu lässt, die auf Assoziationen des Gegenübers basieren, nicht aber auf der Realität.  Mehr denn je gilt das Prinzip Haustürschlüsseleines der essentiellen Basics für den Außenauftritt“, den individuellen, auch virtuellen Auftritt zu optimieren.  

Viele schrecken instinktiv vor dem ungewohnten eigenen Bild zurück, wenn sie der Aufforderung „aMeeting teilnehmen“  zugestimmt haben, springen dann aber über ihren Schatten und machen mit bei der kollektiven digitalen Nähe. So schön die Begleiterscheinung ist, dem ein oder anderen Kollegen, Kunden oder Klienten dadurch auf einer neuen Ebene zu begegnen, so wichtig ist es auch, dass jeder lernt professionell damit umzugehen und über Nähe und Distanz und eigenen Wirkung entscheidet. Interessant dabei – wir haben uns selber dabei ständig vor Augen und wissen, wie wir im Dialog aussehen – das bietet uns kein Meetingraum in der realen Welt – es sei denn er ist verspiegelt. 

Das eigene Bild aber mit dem in Einklang zu bringen, wie ich in der virtuellen Realität tatsächlich wirke ist also ein neuer und zum Glück ständig korrigierbarer Bestandteil des neuen „Außenauftritts, den ich in diesen Zeiten lernen und beherrschen sollte. Zu wissen, wie ich mich selbst in einem virtuellen Meeting richtig in Szene setzt, den schmalen Grat zwischen Nähe und Distanz auszubalancieren und gekonnt zu bespielen ist hilfreich, um weiterhin auf dem Niveau zu performen, das man sonst auch bespielte. Zu leicht steht man sonst virtuell ohne Hose vor Anderen, deren Nähe man so gar nicht wollte. Und auch hier gilt die Bühnenweisheit: Wenn ich die Tür für den Zuschauer einmal aufgemacht habe und ihm Einblick in einen intimeren Bereich gewährt habewird der Zuschauer keine andere Ebene mehr akzeptieren  als genau diese. Also lohnt es sich, in den eigenen virtuellen Außenauftritt zu investieren. Und nebenbei macht es sogar Spaß, denn die vielen verschiedenen Zuschauer bieten tollen Möglichkeiten, den eigenen virtuellen Auftritt variantenreich zu proben – wie ein Schauspieler auf der virtuellen Bühne. Vorhang hoch!