Keiner versteht mich!

Wie wir miteinander arbeiten, wenn wir Diversität wirklich ernst nehmen

„Das wissen wir doch alles schon, längst!“ erstaunt schaue ich auf die vielen Köpfe in Kästchen vor mir. Es ist jetzt bereits das Dritte Mal, dass das Sales Coaching brüsk von einer bestimmten Teilnehmerin unterbrochen wird, ohne Handzeichen und bewusst intervenierend. Sie fände es unglaublich langweilig, sie bekäme hier keinerlei neue Einsichten, gibt sie uns zum wiederholten Male zu verstehen. Die Reaktionen der anderen Teilnehmer reichen von Kopfschütteln bis resigniertem Augenrollen. Offenbar sind diese Ausbrüche den Kollegen nicht ganz unbekannt. Ich bedanke mich für das Feedback. Wir lassen den Theorieteil vorerst hinter uns und gehen direkt in interaktive Arbeitsgruppen, um das Gelernte in Rollenspielen umzusetzen.

Meine Co-Moderatorin und ich nutzen die Zeit, um uns zu beraten. Das Sales Coaching ist seit Jahren Teil unseres Programmes, wir sammeln regelmäßig Feedback dazu und sorgen dafür, dass Inhalte und Methoden immer auf dem neuesten Stand sind. Noch nie haben wir eine derartig negative Reaktion eines Teilnehmenden erlebt. Zur Vorbereitung der Trainings werden sogar Vorabbefragungen mit den Teilnehmenden durchgeführt, um sicherzustellen, dass Trainingsinhalte und -methoden genau zu deren Profil passen.

Wir entscheiden, dass wir die Zwischenfälle mit der Teilnehmerin separat aufnehmen und ggf. auch mit dem Auftraggeber besprechen mit dem die Inhalte, die außerdem auf einer Vorabbefragung der Teilnehmer basieren, eng abgestimmt waren. Es scheint, als stecke mehr dahinter. Schließlich handelt es sich bei den Teilnehmern um erfahrene höchstqualifizierte Berater, die sich nun die ersten Akquise-Skills und Methoden aneignen sollen, um den nächsten Step auf der Karriereleiter zu machen und eigene Netzwerke und Accounts aufzubauen.

Die Gespräche nach dem Abschluss des Moduls liefern einige Datenpunkte, der Auftraggeber und Vorgesetzte seufzt „Ach ja, unsere Charlotta, die ist wirklich speziell. Das wundert mich ehrlich gesagt gar nicht, dass sie hier auffällig geworden ist. Was meinen Sie, wie das teilweise in unseren internen oder auch Kundenrunden zugeht, mega-peinlich ist uns das oft. Aber man muss ihr einfach lassen, dass sie inhaltlich brillant ist. Darauf können wir in der momentanen Lage einfach nicht verzichten. Wenn sie ihre Kollegen weiter bei deren Entwicklung stört, müssen wir sie eben aus der Trainingsgruppe rausnehmen. Geben sie mir dann einfach ein Signal.“

Jetzt bin ich neugierig geworden. Ich lasse mich über die Firmenzentrale mit der Teilnehmerin verbinden. Sie ist überrascht, aber freundlich, allerdings nicht ohne den Hinweis, dass wir für den Screenshot, den wir für die Teilnehmer zu Erinnerung gemacht haben, die Genehmigung jedes einzelnenn müssten. Ok, das hätten wir schon mal geklärt. Ich frage behutsam, was sie so verärgert hätte im letzten Coaching Modul, wir hätten den Eindruck sie sei unzufrieden mit Inhalten und Tempo? Zunächst bleibt sie im Allgemeinen und sagt sie hätte das alles schon mal gelesen, Schulz-von-Thun, Sender-Empfänger Problematik, psychologische Grundlagen,…Ich bin erstaunt, dass sich eine Rechtsberaterin so intensiv damit befasst hat und gebe dem Ausdruck. Erkläre ihr, dass der Wissens- und Fertigkeitenstand unserer Erfahrung und Bestandsaufnahme gemäß deutlich reduzierter sei.

Da bricht es auf einmal aus ihr heraus. Unverstanden seit ihrer Kindheit, übersprang sie zwei Klassen, machte mit 16 Abitur und begann ihr Studium, aber auch dort erlebte sie nur anecken und genervte Professoren und Kommilitonen. Nun, in einer der Top Beratungsfirmen der Welt hatte sie erwartet endlich anzukommen und Gleichgesinnte zu treffen. Aber auch hier geht der Schmerz weiter. Es gehe alles zu langsam, die Leute seien unglaublich schwer von Begriff. Es nerve sie furchtbar. Ich beginne zu verstehen. Unser Gespräch entwickelt sich in eine forschende, konstruktivere Richtung. Ich frage Charlotta ob sie schon versucht hat herauszufinden, was dahintersteckt, dass sie überall aneckt. Das scheint ihre natürliche Neugier zu wecken. Ich frage sie, ob sie mal einen IQ-Test gemacht habe. Nein, sagt sie erstaunt, was soll denn das bringen?

Wir gehen auseinander mit der Vereinbarung, dass sie weiter am Training teilnimmt, wenn sie Lust hat, aber mit Rücksicht auf das Tempo der Gruppe.

Es vergehen Monate, Charlotta ist nicht wieder erschienen. Ich habe die Episode fast schon vergessen, da klingelt eines Tages mein Telefon. Charlotta. Sie sprudelt vor Energie. Sie hat sich ein Herz gefasst und den Test in Heidelberg absolviert. Das Resultat liege jenseits der 160, der Tester sei ausgerastet. Sie wurde sofort in diverse Hochbegabten Gruppen verwiesen, wo sie endlich Menschen traf, die so waren wie sie. Charlotta ist glücklich, sie hört gar nichts auf sich zu bedanken. Ich versuche sie zu bremsen, das ist doch Dein eigener Verdienst, ich habe den Entwicklungsimpuls gegeben, aber Du hast ihn verwandelt. Auch ihrem Arbeitgeber hat sie davon erzählt und nun kann man in ihrer Organisation auf einmal ganz anders mit ihrem Anderssein umgehen. Es gibt Verständnis und sogar Sondereinsätze für sie. Ich freue mich mit. Wieder einmal bestätigt sich mein Mantra, dass jede Störung eine Opportunität für alle Beteiligten darstellt. Denn was ist eine Störung anderes als unterschiedliche Erwartungshaltungen, die aufeinandertreffen. Und darin steckten in der Regel für beide Seiten Erkenntnisgewinne – sofern sie sich auf ihr Gegenüber und ihre Welt einlassen, können sich eine zusätzliche Perspektive oder Fähigkeiten eröffnen, die wir im „eigenen Saft“ nie gewonnen hätten. Nicht umsonst feiern wir die Diversität – sie kann unendlich bereichernd sein, wenn es gelingt, die mit ihr einhergehenden Reibungspunkte in ein gutes Miteinander verwandeln.

Charlotta rief neulich wieder an, sie habe jetzt auch ihre kleine Tochter einen Test machen lassen. Sie soll ihre eigene Erfahrungskurve früher nehmen und eine glücklicher Schul- und Studentenzeit haben und sich da wo sie ist richtig fühlen.